Was tue ich?

Ich darf, beginnend vom 01.09.2014 elf Monate lang an der Visions of Hope Christian School “Rose of Sharon” auf den Philippinen ein Freiwilliges Soziales Jahr machen.
Die Kinder, die ich dort unterrichten und lieb haben darf, sind ehemalige Straßenkinder im Alter von drei bis sechzeh Jahren.
Als eine von insgesamt 17 Freiwilligen, die ADRA live dieses Jahr in verschiedene Länder entsendet, habe ich nun die Möglichkeit, von meinem Überfluss abzugeben und durch meine Zeit und meine Kraft das Projek zu unterstützen und mitzuhelfen, dass Menschen wieder hoffen können.

Sonntag, 30. November 2014

Jerbie

"I think hail only comes from cumulus nimbus clouds, or what do you think?", er sieht mich direkt an.
Der grau verhangene Himmel ueber uns scheint haemisch zu grinsen und laesst spoettisch einen Regentropfen auf meinen Scheitel fallen. "Oh, really? Ya, that's possilble!", sage ich und in diesem unfassbar eloquenten Satz spiegelt sich meine Ratlosigkeit.
Ich liebe Wolken! Schleierwolken, und Quellwolken und Schaefchenwolken. Aber meine Gymnasialbildung reicht bei weitem nicht fuer solche meteorologischen Sachverhalte aus. Klein und demuetig stehe ich vor diesem vielleicht vierzehn Jahre alten Jungen, der mit einer Selbstverstaendlichkeit alle europaeischen Hauptstaedte mit Laendern aufzaehlt, Gedichtraetsel verfasst, saemtliche Liedtexte auswendig parat hat, sich in Weltgeschichte, Geografie und Philosophie weit besser auskennt, als manch ein deutscher Schueler.
Dieser Junge, der wohl seinen Atlas, seinen einzigen Besitz und groessten Schatz auswending kann, die Buecher frisst, wie eine Raupe Nimmersatt und wohl der naechste philippinische Praesident werden wird, beeindruckt mich immer wieder. Mit den weichen Gesichtszuegen seines Bruders Gino ausgestattet, mit Mut, sein Wissen auch anzubringen, mit dem Charme eines Gelehrten und dem leisen Duft einer grossen Zukunft vor sich herwabernd, geht er durchs Leben. Und laesst mich mit seinen urploetzlichen Fragen immer wieder alt aussehen. Und erleuchtet damit doch seine Umwelt.
Und mich.

Janine

Die schwarzen, kinnlangen Haare fallen nach vorn ueber ihr huebsches Gesicht, als sie sich in einer ruckartigen Bewegung, die aussieht, als wolle sie aufstehen nach vorn lehnt und nochmal von Neuem beginnt. Das Lich der Nachmittagssonne faellt schraeg durch die schmutzigen Glaslamellen auf ihre Zuege und gibt den vollen Lippen, die sie wie alle ihre Geschwister traegt, den wachen Augen und der platten Nase einen lieblichen Hauch. Sie spielt gut, was wohl daran liegt, dass ihr Englisch so gut ist, dass sie mich zumindest versteht, und weiss, was ich von ihr will. Vor ihr hatte ich Klavierschuelerinnen, die geschlagene zehn Minuten damit verbrachten, eine Tonleiter mit dem richtigen Fingersatz zu spielen- und jetzt sie. Sie, die huebsche, freundliche, angenehme Gestalt, die mich so sehr an den kleinen Gino (treue Leser haben schon von ihm gehoert) erinnert, ihren Bruder. 
CDEFGAHC-langsam und doch zielstrebig und sicher finden ihre Finger die Toene, kaum dass sie die Tasten beruehren. Sanft und fast schon scheu drueckt sie die geliebten weissen Holzkloetze herunter. "1-2-3-1-2-3-4"- ich stocke. Will den Fingersatz nicht weiter sagen. Einen Moment starre ich auf ihre Hand, dann kommt es mir doch ueber die Lippen. "Five" 
Sie gehorcht geduldig. Fasziniert sehe ich weiterhin auf ihre Hand. Ich will schreien: "Du musst das nicht machen! Nicht, wenn es dich schmerzt, nicht, wenn es dir unangenehm ist. Janine, ich bin so stolz auf dich!"
Aber sagen kann ich es nicht. Sagen kann ich nur: "Very good!" Und weiter ihren kleinen Finger betrachten, der nach zwei Fingergliedern einfach endet und den sie so selbstverstaendlich benutzt, als waere es unnormal, drei Fingersegmente und einen Fingernagel zu haben. 
Was ist wohl passiert? In was fuer einem Kampf hat sie ihn verloren? Was ist das fuer eine Geschichte? 
Was ist das fuer eine Heldin!

Sonntag, 16. November 2014

Abby

Erwartungsvoll sitzen wir da; wie die Huehner auf der Stange hat sich der gesamte Staff (also alle Mitarbeiter des Campus') inklusive Kueche und house keeping in einer Reihe, die vom einen Ende unserer Kantine bis zum anderen reicht, auf den weissen Palstikstuehlen aufgereiht. Die Ansage war auf Tagalog und wir haben keine Ahnung, was kommt. Es sind Ferien, alle Lehrer haben zusammen einen bunten Abend fuer die hier gebliebenen Kinder veranstaltet und dieser geht soeben zu Ende... Nur das noch, dann koennen wir in die Federn. Die Chefin fuer heute abend-Mae- ruft ein Kind auf, ans Mikrofon zu kommen, dann noch eins, dann ein weiteres. Immer mehr Kinder heben die Hand und wollen etwas sagen. Aus den wenigen Brocken, die ich verstehe, schliesse ich, dass es Danksagungen sind. Die Kinder, die sonst oft so frech, aufsaessig und ungehorsam sind, denen man anscheinend nichts geben, nichts beibringen kann, wollen von sich aus Danke sagen!!

Als mehr und mehr Kinder aufstehen, greift Mae kurzerhand zum Radikalschlag: "You have five minutes- say, what you have to say!" (Ihr habt fuenf Minuten, sagt, was ihr sagen wollt)
Einen Moment ist es ganz still. Dann loest sich das erste Kind aus dem Haufen und stuermt auf seinen Lehrer zu. Dann noch eines, noch eines, noch eines. Eine, vielleicht zwei Sekunden lang sitze ich da. Schweigend. Nachdenkend. Wird ueberhaupt ein Kind zu mir kommen? Habe ich mich in die Herzen der Kinder, in irgendein Herz schleichen koennen? Habe ich etwas bewirkt? Wollen sie mir etwas sagen? Kennen sie ueberhaupt meinen Namen?
Ploetzlich fliegt etwas auf mich zu. Schwarze Haare, kleine Kinderarme, die sich um meinen Hals schlingen. "Teacher Melanie, I love you!", fluestert sie mir ins Ohr. Ich kann sie einfach nur festhalten, bevor drei, fuenf, zehn Kinder auf mich einstuermen und jeder ein Stueck von mir will. Meine kleine, manchmal echt nervige, aber immer treue, das erste Kind, dass ich hier mit Namen kannte, meine kleine huebsche, musikalische Abby.  

Der schoenste Tag im Leben...

Ich stehe an der Ecke des Raumes, bin gerade erst durch die offene Glasfassade eingetreten. Der Wind faehrt mir durch die- nach langem Suchen massgeschneiderte- Nationaltracht und spielt mit meinen Haaren.
Vollkommen fasziniert stehe ich da und staune. Die Halle ist in Lila-und Gelbtoenen dekoriert und die Lichter an der Decke spiegeln sich im weiss strahlenden Fussboden.
Doch das einzige, was meine Aufmerksamkeit fesselt, steht vor der Tuer. Zwanzig weiss gekleidete Frauen, davor in lila huebsch zurecht gemachte Maedchen und davor Familienangehoerige- Vaeter, Tanten, Mamas. Ploetzlich erklingt eine allzu bekannte Melodie und man vernimmt aus den Lautsprechern Wagner.
Und zu den Lohengrinklaengen, werden die Namen der Wartenden aufgerufen. "Treulich gefuehrt, ziehet dahin..." eine nach der anderen wird nach vorn geleitet und die Reihe der Wartenden wird immer kuerzer.
Als alle zwanzig Paare zusammen auf der Buehne Platz genommen haben, setzen auch wir uns in der Menge der Gaeste.
Eine Massenhochzeit.
Das erste Mal, dass ich so etwas sehe und als ich spaeter von einem Briten gefragt werde: "That was kinda awkward, huh?" (Das war ziemlich seltsam) kann ich nur zustimmen. Es ist so ganz anders, als alles, was man sich in seinen Maedchentraeumen und zartcremefarbenen Vorstellungen vom perfekten Tag im Leben hier in Europa ausmalt. Die ganze Zeit ueber habe ich das Gefuehl, das ganze waere nur eine Inszenierung, eine Unwirkliche Sache, eine Vorfuehrung. Die jungen Frauen in ihren weissen Kleidern, die Maenner, die die Ringe einfach aus der Hosentasche ziehen, die wenigen Lieder, die den Paaren gesungen werden- das alles wirkt auf mich, wie eine Darstellung von Hochzeit, aber nicht, wie eine ernsthafte Sache. Und dann kommen Gedanken.
Was ist ein Mensch wert? Was ist so eine Hochzeit wert, dass wir bei uns eine tausendprozentige Maerchenzeremonie aufziehen, am besten mit Schloss und Kutsche und Einhoernern und hier werden einfach zwanzig Paare auf einmal getraut? Wie viel Aufwand wird betrieben fuer solche Ereignisse bei uns in Deutschland? Und warum kommt es einem so seltsam vor, dass hier Menschen, wie auf einem Amt im Dutzend abgehandelt werden? Warum ist man selbst so verwoehnt und hat ganz genaue Vorstellungen, Ansprueche, Wuensche wohingegen diese Paare hier, fuer die das wohl der unfassbarste Tag im Leben war, gluecklich sind, ueberhaupt in solche einer Feier zu heiraten? (Die hier getrauten Paare koennten sich keine Hochzeit leisten, da es ehemalige Strassenfamilien sind und wurden deshalb von CCT gesponsort, damit sie, wenn auch alle zusammen, eine richtige Hochzeitszeremonie erleben konnten)
Worauf kommt es an? Auf die Blumendekoration? Den roten Teppich im Mittelgang? Die unfassbar schoen hergerichtete Tafel, an der die Paare spaeter Platz nehmen? Auf die weissen Kleider und die huebschen Blumenmaedchen? Auf den unterschriebenen Ehevertrag?
Macht nicht die Tatsache den Unterschied, dass es ein Tag, wie kein anderer im Leben sein soll? Dass dieses Ereignis unvergesslich, unvergleichlich wertvoll fuer diejenigen sein soll, die es erleben?
Wenn das das Ziel ist, wuerde ich sagen- Ziel erreicht!

Samstag, 1. November 2014

Resty

Da ist ein Kind. Es trägt den Namen Resty.
Es wirft mit Felsbrocken auf seine Lehrer, schlägt wahllos um sich und zieht sich schon so eine kleine Ganovenbande heran...
Er kennt kein Nein und kein Pardon und keinen Schmerz.
Als ich meine letzte Klavierschülerin gehen lasse (aus dem mit Spielsachen und seit neuestem Fahrrädern vollgestopften "Playroom", in dem das Klavier unglücklicherweise steht) schlüpft er mit seiner Bande hinein. Eine leichte Panikwelle packt mich. Schon haben die kleinen Jungs mit der Gangstervisage die Fahrräder okkupiert und sind damit auf und davon. Ich rufe ihnen hinterher, mehr aus Resignation, als ernsthafter Zurechtweisung, denn ich weiß  dass ich gegen sie keine Chance habe. Trotzdem falte ich sie auf Englisch ein wenig zusammen, starre sie an und warte, dass sie zurückkommen. Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf- "Herr, ich kann nichts tun, hilf mir!!" Ganz kurz schließe ich die Augen. Als ich sie wieder aufmache, traue ich selbigen kaum. Unter den strengen Blicken unserer großen Mädels kommen die kleinen Ganoven zurück!! Einer nach dem anderen, wie die Tiere an der Arche Noah marschieren sie im Gänsemarsch wieder in den Playroom hinein, stellen die Räder ab und gehen! Ich bin völlig überwältigt.
Als letzter ist Resty dran. Er bleibt kurz bei mir an der Tür stehen, und sieht mich an. Ich warte auf Fäuste, Nadeln oder sonstiges Folterwerkzeug, doch er umarmt mich kurz und geht. Und lässt mich völlig sprachlos zurück.